Beschreibung
Unbekannt:
Die Harmonie der Welt
Lyrik eines Landstreichers
Überliefert von Wuffel
HeftDIN A5, 24 Seiten
In den 80er Jahren saß in der Oldenburger Fußgängerzone ein alter Vagabund mit schneeweißem Haar auf einer Decke, umgeben von kopierten Heftchen mit selbstverfaßter Lyrik, die er milde lächelnd gegen eine Spende an Interessierte abgab. Wuffel setzte sich eine Weile zu ihm. An den Inhalt des Gesprächs konnte er sich nicht mehr entsinnen, aber der alte Mann beeindruckte ihn seinerzeit durch seine freundliche, humorvolle Art; er war ganz anders, als die deprimiert-verkniffenen Obdachlosen, denen er bisher begegnet war. Seine Ausstrahlung war so positiv, daß Wuffel ihn als „lichterfüllt“ wahrnahm. Er ist dem Fremden nie wieder begegnet- aber das Lyrikheft hat er 35 Jahre aufbewahrt und nun dem Packpapierverlag zu Nachdruck und Veröffentlichung übergeben.
Es ist das Rätselhaft- Einmalige dieser Begegnung, die den aphoristisch-mantrenhaften Versen ihren Zauber verleiht, der Moment, in dem ein scheinbar unbedeutender Mensch einem möglicherweise ebenso unbedeutenden Menschen plötzlich wesentlich und zum Teil der eigenen Biographie wird. Wir wissen nichts über den weißhaarigen Vagabunden, außer, daß er wohl nicht mehr am Leben ist. Er hat uns im „Vorbeigehen“ einige Sinnsprüche und Lebensweisheiten in Versform übergeben, die ihn als überzeugten Anhänger des panta rhei ausweisen, der glücklich ist, Hab und Gut, Sterilität und Immergleiches, Dummheit, Gier und Haß hinter sich gelassen zu haben; der sich auf den Weg der Obdachlosigkeit gemacht hat (machen
mußte?), um zu lernen, die Welt nicht mehr „ergreifen“ und in Besitz nehmen zu wollen, ihrem Hang zu Krieg und Vernichtung nicht mehr zu folgen, sondern alles als fließend, vergehend und werdend zu begreifen.
„Ist Alles verloren / Kommt die Welt zu Dir.“
Was wie eine Binsenweisheit klingt, erhält Wirklichkeit und Gehalt dadurch, daß der Autor offenbar erlebt hat, wovon er schreibt. Daß der Aufruf, das Ich zugunsten der Welt aufzugeben, um in diesem Aufgeben wie nebensächlich Glück und Erfüllung zu finden, nicht aus der Feder eines jugendlichen Adepten irgendeiner esoterischen Lehrmeinung stammt, sondern von einem alten Landstreicher niedergeschrieben wurde, das macht die 55 aufeinander aufbauenden (aber ebenso einzeln zu lesenden) Themen- Verse glaubwürdig und wesentlich.
AUSZÜGE:
Hast Du Schmerzen, lauf nicht davon
Hast Du Hoffnungen, halt sie nicht fest
Suchst Du die Freiheit, bindet Dein Suchen Dich
Ergreifst Du das Gute, ist Dein Greifen das Böse.
(…)
In Deiner Rede reden tausend Menschen
In Deinem Gang gehen Lurche und Pferd
Aus Deinen Augen blicken Vogel und Reh
Deiner Hände Greifen ist das Greifen der Steinzeitmenschen.
(…)
Dein Wahrnehmen ist gefilterte Welt
Dein Denken ist gefilterte Wahrnehmung
Dein Streben ist gefiltertes Denken –
Was ist es, das Du da greifst?
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(…)
Du jagst nach dem Schein
Und die Wahrheit verfolgt Dich.
—–
Du zwingst die Stoffe in Deine Form
Doch sie zerfallen
Du zwingst Deine Kinder in Deine Form
Doch sie wenden sich gegen Dich
Du zwingst die Gesellschaft in Deine Form
Doch Menschen werden das nicht
Du zwingst Dich selber in Deine Form
Und sie zerbricht Dich.
(…)
Die Strahlen der Welt durchdringen Dich
Die Schwingungen der Welt erschüttern Dich
Die Kräfte der Welt bewegen Dich –
Dein Reden von Freiheit betrügt Dich.
(…)
Die redest von Freiheit
Und Dein Motiv ist Zwang
Du redest von Sicherheit
Weil Du sie suchst
Du redest von Unabhängigkeit
Und wartest auf Beifall –
(…)
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Du hast Mut in den Weltraum zu fliegen
Doch Du zitterst vor Gespenstern
Du beherrscht Atome und Raketen
Doch Dein Denken beherrscht sich nicht
Du ordnest das Leben von Völkern
Doch Deine Gedanken ordnen sich nicht
Du verfügst den Tod anderer Menschen
Und weißt nicht ob Du nicht an Dir selbst zerbrichst.
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Die Mechanik Deiner Logik täuscht Dich
Lebendiges bewegt sich nicht gradlinig
Materie bewegt sich nicht beziehungslos
Kannst Du die ungradlinige Bewegung verstehen
Kannst Du allseitigen Bezug sehen
Ist die Mechanik Deiner Logik zu Ende.
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Du redest von Fortschritt
Und bewegst Dich auf der Stelle
Du machst Revolutionen
Und wiederholst die Unterdrückung
Du glaubst an das Neue
Und Dein Denken orientiert sich beim Alten
Du strebst nach vorn
Und schaust nach hinten
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Deine Zellen sind permanenter Austausch
Dein Blut ist permanenter Fluß
Dein Hirn ist permanente Reaktion
Deine Idee ist der Versuch, alles anzuhalten.
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In Deinem Spiel erscheinen Möglichkeiten
Dein Denken erkennt diese Möglichkeiten
Dein Streben ergreift diese Möglichkeiten
Dein Leben wird abhängig von diesen Möglichkeiten.
—-
Deine Gedanken ruhen sich aus
Wenn sie von einem Buch geführt werden
Wenn sie von einem Spiel amüsiert werden
Wenn sie in einer Aufgabe diszipliniert werden
Wenn sie in einen Traum entlassen werden
Deine Gedanken ruhen sich aus
Wenn sie von Dir nicht festgehalten werden.
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Du willst Deinen Schmerz nicht sehen
Denn Du schaust lieber die Heilmittel an
Du wagst Deine Qual nicht zu bekennen
Denn Du meinst Du müßtest ihr Meister sein
Du wagst nicht Deinen Gott zu verfluchen
Denn Du denkst er müßte Dein Ebenbild sein
Du willst nicht zur Wurzel gehen
Denn dort bist Du klein.
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Du sagst Du magst dieses Essen nicht
Es ist Dein Geschmack den Du nicht magst
Du sagst Du magst dieses Wetter nicht
Es ist Deine Erwartung die Du nicht magst
Du sagst Du magst diese Gesellschaft nicht
Es ist Deine Anschauung die Du nicht magst
Du sagst, wenn Du es wagst, Du magst diese Welt nicht
Es ist der Geschmack von Dir selber, den Du dann wahrnimmst.
—–
Du meinst Du kannst wie ein Kindlein bleiben
Daß Du das denkst zeigt, daß Du es nicht bist
Du meinst Du kannst ohne Idee bleiben
Was Du da denkst, ist eine Idee
Du meinst Du kannst ohne Absturz bleiben
Wenn Du das hoffst, ist er Dir nahe.
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Deine Häuser sperren Dich ein
Dein Wissen kettet Dich an
Deine Wünsche zerren Dich umher
Doch Leben ist Bewegung aus sich selbst
Dein Atem wird nicht von Dir gemacht
Dein Feuer wird nicht von Dir entfacht
Dein Wirken wird nicht von Dir verursacht
Dein Leben ist Bewegung aus sich selbst.
——
Es ist so schwer
Aus dem Schein der Macht
Hinabzusteigen in die Wahrheit der Ohnmacht
(…)
Du bist geblendet, weil Du sagen kannst
„Es werde Licht“ wenn Du den Schalter betätigst
Du eroberst die höchsten Gipfel
Doch Deine Triumphe werden durch Deine Finger rinnen
Und das Tal der Schmerzen wartet auf Dich
(….)
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Wenn der Rhythmus Deiner sterilen Kreise gestört wird
Zerbrechen sie
Und Du erfährst die Gnade des Sterbens.